#112

Ich habe einfach meinen Mut zusammengenommen und bin ins Gemeindehaus von Amden, um zehn vor fünf, wie man das ja geschickterweise nicht machen sollte. Und dann kam mir einer entgegen, am Heimgehen, das war der Gemeindepräsident, und fragte: Ja, was wollen sie? Ein Regal mit gebrauchten Büchern zum Mitnehmen und Tauschen, im leeren Eingangsbereich der alten Post, gleich neben der Bushaltestelle! Das fand er dann tatsächlich eine sehr gute Idee.

Es ging dann doch noch ein paar Monate hin und her, neuer Gemeindepräsident, Budgetbedenken… Irgendwann sah ich im Internet drei Büchergestelle, die einfach perfekt an den Ort passten. Die Gemeindeschreiner montierten die Büchergestelle. Dann mussten wir ganz schnell viele Bücher sammeln. Ich fragte bei einer Büchertauschkiste nach und sie sagten mir, ich könne gerne Bücher mitnehmen, sie bekämen genug. Ich durchforstete mein eigenes Büchergestell und fragte Freundinnen und Verwandte.

Wir hatten etwa zweihundert Bücher zum Anfangen, das tönt nach viel, aber im grossen Büchergestell sah es aus wie zehn. Eine Woche drauf schrieb eine Zeitung über uns und plötzlich riefen mich Leute an und wollten Bücher vorbeibringen. Alles Mögliche, alte Schinken, die niemand mehr lesen will, Romane, Sachbücher oder eine ganze Serie von Agatha-Christie-Krimis… langsam füllte sich das Büchergestell.

Wider Erwarten war das Büchergestell schnell wahnsinnig beliebt. Die Bücher wechseln unglaublich schnell. Die Buschauffeurin liest gerne Thriller und nach dem Lesen gibt sie die Bücher einem anderen Buschauffeur. Das ist auch erlaubt: Man darf nehmen, zurückbringen, behalten oder etwas Neues bringen.

Eine Deutschlehrerin kam mit vier Kindern aus dem Durchgangsheim in Amden vorbei. Ein Bub fand etwas und sagte: ich möchte das unbedingt lesen. Die Lehrerin fand, das ist zu schwierig. Aber der Bub blieb dabei und las eine Seite zur Probe. Also durfte er es behalten. Er strahlte über das ganze Gesicht und zeigte mir das Buch. Auf dem Titelbild war so etwas Furchteinflössendes, das fand er ganz lässig. Ein Mädchen fand ein Bilderbuch für ihre kleine Schwester und war total glücklich.

Bücher für Kinder sind immer am schnellsten weg. Ich komme fast nicht nach mit Nachschub. Darum hänge ich jetzt in vielen Läden Inserate auf: Ich übernehme gerne gebrauchte Kinderbücher. In einer Kleiderbörse in meinem Quartier hat es eine Gratiskiste mit ramponierten oder verkribelten Büchern, die sich nicht verkaufen lassen. Die flicke ich und radiere das Gekrakel. Die Börse ist noch so froh, dass sie sie loswerden.

Als ich letzthin neue Bücher ins Gestell einräumte, kam ein Paar mit Wanderstöcken rein. Sie hatten einen Brief auf der Strasse gefunden, schon vor fünf Tagen gestempelt. Und dann stand da tatsächlich mein eigener Name drauf! Es war ein Brief des Gemeindepräsidenten, der danke sagen wollte.