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Der Soziologe Ray Oldenbourg hat den Begriff der Dritten Orte geprägt. Das sind Orte, die weder dem Familien- noch dem Arbeitsleben dienen, sondern Gemeinschaft und Interaktion fördern. Auch moderne Bibliotheken gehören dazu. Beheizte Räume ohne Konsumzwang, mit einem grossen Angebot an Kultur und Information. Alle können sie nutzen, solange sie sich an ein paar elementare Verhaltensregeln halten, auch Ortsfremde oder Wohnungslose.

Ich begleitete deutsche Bibliotheken auf ihrem Weg zu zeitgemässen Angeboten. Die Schweiz ist da manchmal schon weiter, deshalb besuchte ich Bibliotheken in Uster, Aarau und Örlikon und sammelte Ideen. Die Bibliotheken sind schön eingerichtet, man fühlt man sich wohl, es gibt Internet, eine Kaffeemaschine, eine Kinderecke, Zeitungen, Pflanzen und Sofas. Man kann sie auch ausserhalb der Öffnungszeiten nutzen, viele Leute kommen morgens vor der Arbeit oder später am Abend.

Man könnte meinen, dass es Vandalismus oder Bücherklau gibt und ständig jemand kontrollieren muss. Aber solche Open Libraries können funktionieren. Die meisten Nutzer*innen sind grosse Fans der neuen Freiheit und kümmern sich deshalb auch um ihre Bibliothek. Wer zum Beispiel zuletzt im Raum ist, schliesst die Fenster.

Mit dem Aufkommen des Internets fragte man sich: Wozu noch Bibliotheken? Aber Bibliotheken sind unverzichtbar. Hier kommen Kinder aus allen Milieus mit Büchern in Berührung Sie können hier ihre Hausaufgaben machen, wenn zuhause wenig Platz und Ruhe ist. Es gibt Lese-Tandems und Lesungen. Für ältere Menschen gibt es Hilfsangebote für die Nutzung von digitalen Geräten.

Bibliotheken sind auch Pioniere der Sharing-Idee. Früher waren Bücher sehr teuer und man wollte, dass möglichst viele Menschen sie lesen können. Dieser Gedanke weitete sich immer mehr aus, zuerst auf CDs, dann DVDs und Videospiele. Mittlerweile gibt es auch Bibliotheken der Dinge, wo man selten benutzte Sachen wie Popcorn-Maschinen oder Karaoke-Anlagen ausleihen kann. Oder ein E-Bike für einen Transport. Immer mehr Bibliotheken haben sogenannte Maker Spaces, wo man mit 3D-Druckern arbeiten kann, oder sogar komplette Musikstudios.

Bibliotheken gleichen gesellschaftliche Unterschiede aus und bieten Menschen aus weniger privilegierten Verhältnissen viele Möglichkeiten. Und sie helfen gegen Vereinsamung. Sie bieten einen Raum, wo wir gemeinsam lesen, zwar jeder etwas anderes, aber nicht allein. Bibliotheken sind also keine blossen Buch-Behälter, das wäre nämlich die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen. Sie sind öffentliche Wohnzimmer für alle Menschen.

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